"Aus der Vergangenheit - in der Gegenwart - für die Zukunft" - Dieser Losung folgend schreibe ich hier auf, was mich bewegt und was ich für mitteilenswert halte. Es geht um Gesellschaft, (ökologische) Politik, Literatur und Musik - kurz - um Weltwahrnehmung im weitesten Sinne. Im Unterschied zu den hastigen Twitter-Sentenzen unserer Zeit wird hier Platz sein für Nebensätze, Gedankenspiele und engagierten aber respektvollen Diskurs. Ich bin Roland Baumann - Digitalcoach, Lehrer, Landwirt, Kommunalpolitiker, Mensch ...
Denkschrift | #4 | Verhandeln?
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Denkschrift | #4 | Verhandeln?

2023-2-24 DENKSCHRIFT | #4 | Verhandeln

Zum Jahrestag des Überfalls versammelt sich um die Schlachtfelder in der Ukraine eine unheilige Allianz. Die russischen Truppen und die offensichtlich als „Menschenmaterial‘ eingesetzten Söldner der WAGNER-Gruppe versuchen auf Gedeih und Verderb Bahmut zu erobern. Dort spielen sich den Geheimdienstberichten zufolge Kampfszenen ab, die an die Strategie des „Weißblutens‘ im Ersten Weltkrieg oder an die Sturmangriffe der Infanterie der Roten Armee im Zweiten Weltkreg erinnern. Unter großen Verlusten berennen die russischen Einheiten im wahrsten Sinne des Wortes die ukrainischen Stellungen und werden erschossen. Allerdings hat die russische Führung aus ihren eklatanten Fehlern des ersten Kriegsjahres gelernt und so erleiden auch die ukrainischen Truppen hohe Verluste. 

Der russische Führer will den Sieg auf dem Schlachtfeld vermutlich also unter Inkaufnahme hoher Menschenopfer durch Zähigkeit und Geduld erzwingen. Er wird vielleicht so lange Truppen ins Feuer schicken, bis der westliche Widerstand, die Unterstützung der kämpfenden Ukraine an diesem Verhalten irre wird, bröckelt und letztendlich zusammenbricht. Es ist also bei Licht betrachtet nicht davon auszugehen, dass die Kreml-Führung derzeit irgendein Interesse daran hat, in Verhandlungen einzutreten, mit der Ukraine einen Frieden zu verhandeln, der über eine Unterwerfung hinausgeht. Es ist nicht davon auszugehen, dass die russischen Truppen aus den illegal besetzten Gebieten abziehen, um Entschuldigung bitten und für den angerichteten materiellen Schaden aufkommen. 

Und genau in dieser Gemengelage bildet sich um Jahrestag des Angriffs eine eigentümliche Allianz in Deutschland. Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer, die AFD und Jürgen Habermas fordern ein Ende der westlichen Waffenlieferungen und rufen zu einer Kundgebung anlässlich des Jahrestages des Kriegsbeginns auf, um für den Frieden zu demonstrieren. Die AFD als Friedenspartei – absurder wird es heute nicht mehr. 

Es ist zu fragen, was die Aufrufenden zu dieser Kundgebung antreibt, was ihre Motive sind. Darunter sind sicherlich die nachvollziehbaren Absichten, das Sterben zu beenden, die irrsinnigen Verluste an Menschenleben und Sachwerten zu stoppen, dem Wahnsinn dieses Krieges ein Ende zu bereiten. 

Und ja, natürlich. Das ist sinnvoll und wichtig und ja – wer möchte das nicht unterstützen. Man müsste ja geistig umnachtet oder unmenschlich sein, nicht für ein Ende des Tötens an der Front und in den Städten zu sein.

Jedoch, zum Verhandeln gehören immer zwei. Und es ist von der organisierten Diplomatie des Westens keine Aussage zu vernehmen, derzufolge von Seiten Moskaus irgendein Zeichen ernstgemeinter Verhandlungsbereitschaft ableitbar wäre. Warum auch? Es sollte doch inzwischen allen, die nicht mit Gewalt die Augen zukneifen, klargeworden sein, was die russische Politik, was die russische Aggression will. Nicht weniger als das Ende der freiheitlich geprägten Weltordnung, nicht weniger als eine autoritäre, imperiale Herrschaftsstruktur, in der das Recht des Einzelnen auf freie Entfaltung, auf Demokratie und Einhaltung der Menschenrechte nichts mehr zählt.

Und deswegen empfinde ich die Art von Pazifismus, zu der die Initiative um Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer aufruft als naiv, katzbuckelnd oder geradezu unterwürfig. Die Initiatorinnen, ihre Mitunterzeichnenden und Gefolgsleute betreiben Täter-Opfer-Umkehr, schreiben den Angegriffenen geradezu eine Mitverantwortung für die Gewalt zu und fordern zu „Kompromissbereitschaft‘ auf. 

Zu fragen ist dann doch, wie ein Kompromiss mit einem imperialistischen Regime aussehen sollte. Muss die Ukraine sich dann einfach dem räuberischen Diktat Moskaus fügen, soll sie dann einfach Teile ihres Territoriums aufgeben, dem russischen Regime oder der Besatzungsherrschaft der russischen Armeeeinheiten überlassen. Wozu dies führt, haben die Ukrainerinnen und Ukrainer und wir alle in Butscha, Irpin, Cherson vor Augen geführt bekommen – überall dort, wo russische Mordbrennerbanden die Herrschaft übernommen hatten. Wir reden von Filtrationslagern, Kindesentführung, Folter. 

Wer mag es den ukrainischen Menschen verdenken, dass sie den mühsamen und verlustreichen Widerstandskampf einer solchen Unterwerfungsherrschaft gegenüber vorziehen. 

Wir sollten uns davor hüten, dem rusisschen Propagandanarrativen auf den Leim zu gehen, wenn uns diese etwas von ‚Spezialoperationen‘ und ‚Entnazifizierung‘ erzählen wollen. Es gibt in der Tat ein Staatswesen in Osteuropa, in dem Menschenrechte unterdrückt und Oppositionelle mundtot gemacht werden. Ein Regime, in dem Wahlen zur Farce verkommen sind und in dem ein Alleinherrscher seine Macht so betoniert hat, dass ein gewaltloser regulärer Herrschaftübergang kaum möglich scheint. Es gibt ein Regime, das Völkerrecht mit Füßen tritt und Angriffskriege vom Zaun bricht, seine Nachbarstaaten überfällt und all dies mit imperialistischen Großreichfantasien und zusammengefaselten historischen Rechtfertiguen legitimieren will. Es gibt dieses Regime des Unrechts und der Unterwerfung tatsächlich – und wir finden es in der Russischen Föderation im Jahr 2023. 

Wollen wir diesem Regime allen Ernstes unterwürfige Zugeständnisse machen, wollen wir es ermutigen, mit neu  aufgestellten und umgruppierten Truppen das nächste Stück aus dem Territorium der Ukraine herauszuhacken oder Moldau zu überfallen, oder NATO-Territorium anzugreifen. Die Übernächsten wären dann wir. Und an der Stoßrichtung, am Umfang und an den Zielen ihrer Operationen lassen die Machthaber in Moskau schließlich nur wenig Zweifel aufkommen. Die Propagandamaschine und das Staatsfernsehen tönt vollmundig. 

Natürlich könnten wir jetzt sagen, dass dies alles nur propagandistische Schaumschlägerei für das eigene Volk ist. Natürlich können wir uns nicht vorstellen, dass ‚er‘ das ernst meint. Aber – das konnten wir im Fall der Ukraine bist in die Morgenstunden des 24. Februar irgendwie ja auch nicht. 

Wir sollten damit aufhören, das Rationale, das Gute, das „Ist-ja-irgendwie- nicht-so-böse-Gemeint‘ in seinem, in ihrem Wesen zu suchen. Wir sollten damit aufhören, den moralischen Kompass in der russischen Politik positiver und menschenfreundlicher einzuschätzen, als er in Wirklichkeit ist. Wir sollten das aggressive in der russischen Politik erkennen, ernstnehmen und uns auf düstere oder zumindest gefährliche Zeiten einstellen. Der Wunsch nach Frieden und nach einer Beendigung des Sterbens der in ein Haltung von „Er fühlt sich vom Westen hintergangen und beleidigt. Lasst uns ihm deshalb einige Zugeständnisse machen, dann wird er schon Ruhe geben – und vielleicht wieder günstiges Gas liefern‘ gipfelt, ist durchaus verständlich, aber in hohem Maße naiv. 

Es wird nie wieder so sein wie vor dem 24. Februar 2022. 

Vor allem aber müssen wir aufhören, einem weiteren russischen Propagandanarrativ zu erliegen, wir müssen aufhören, die Schuld an der Gewalteskalation bei den Angegriffenen zu suchen – und wir müssen damit aufhören, über die Köpfe der ukrainischen Politik und der ukrainischen Bevölkerung hinweg zu verhandeln und Zukunftspläne zu machen. Sie sind die zentralen Subjekte jeglicher Verhandlungen, sie sollten mit unserer Hilfe in die Lage versetzt werden, ihre nationale Selbstbestimmung, ihr Existenzrecht zu verteidigen und aus einer Position der Stärke heraus in Verhandlungen zu gehen. Dieser Krieg wird vermutlich mit Verhandlungen enden. Und der Unterwerfungsfrieden wird nur zu vermeiden sein, wenn die russischen Invasoren und ihre Befehlshaber merken, dass sie ihre wahnsinnigen Ziele nur unter Inkaufnahme (zu) hoher Opfer ereichen können – oder gar nicht. 

Welchen Grund für Verhandlungen sollte Moskau haben, solange weitere Battaillone in den Fleischwolf der Donbass-Front geschickt werden können. 

Und nicht zuletzt müssen wir den Blick auf uns selbst richten. „Wir sind in einer anderen Welt aufgewacht‘, formulierte die Außenministerin vor einem Jahr. Ja, wir haben uns nach dem Aufwachen die Augen gerieben, wir sind auch wach geworden, wir haben reagiert. Zögerlich, zu langsam, zu wenig – aber immerhin. 

Jetzt müssen wir darangehen, unsere Hausaufgaben zu erledigen. Dafür sorgen, dass unsere eigenen Streitkräfte nicht länger beschämt vermelden müssen, dass im Verteidigungsfall die Munitionsbestände nur für maximal zwei Tage reichen, dass die Gefechtsfahrzeuge nur gefühlt zur Hälfte einsatzfähig sind, dass es vorne und hinten fehlt – an Material und an Personal. Zu lange haben viele von uns, haben große Teile der Politik diesen Missstand schultzerzuckend belächelt, zu lange fühlten wir uns „umzingelt von Freunden‘, zu lange konnten wir uns nicht so recht vorstellen, wozu man die Bundeswehr noch brauchen könnte, außer für Auslandseinsätze und bei Hochwasserkatastrophen. 

Natürlich ist es immer besser, überhaupt erst gar keine Waffen zu produzieren, natürlich brauchen wir die finanziellen Ressourcen für die Herstellung sozialer und ökologischer Gerechtigkeit, für die Bekämpfung des menschgemachten Klimawandels – der Überherausforderung unserer Zeit. 

Jedoch, um Schiller zu bemühen – ‚es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt‘. Wir werden nicht umhin kommen, uns neben all den ökologischen, ökonomischen, sozialen Herausforderungen auch den sicherheitspolitischen Anforderungen zu stellen, die an ein Land unserer Größe und Bedeutung gerichtet werden.

Die gemütlichen Jahre, in denen wir uns ausschließlich um unseren Wohlstand gekümmert und und um wenig Anderes bekümmert haben, sind wohl für‘s Erste vorbei. Wir tun gut daran, das zu erkennen und uns politisch auf die neue Zeit einzustellen, anstatt dem gemütlichen Gestern hinterherzutrauern. 

Schließlich bringt die neue Zeit nicht nur Anstrengung und Mühsal mit sich, sondern verheißt uns auch Möglichkeiten für neuen Wohlstand und neue Gerechtigkeit – auf der Basis demokratischer organisierter erneuerbarer Energien. Sobald wir das fossile Verbrennungszeitalter hinter uns lassen, werden auch die Kriege im Umfeld fossiler Brennstoffe enden. 

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